Donnerstag, 19. Mai 2011

Lewis Mumford zur Architekturkrise

"Keine Aristokratie der Welt hat jemals daran gezweifelt, dass dem Wohnhaus, dem Garten und dem Tempel vor allen niedrigen Einrichtungen des Lebens der Vorrang gebührt, und die volkstümlichen Zivilisationen, aus denen sich die Aristokratie zu entwickeln pflegte, haben sich fast ausnahmslos an diese Realitäten gehalten. In den altnordischen Fabeln gelten die Zwerge als seltsame Unholde, weil man sie nur als das geschäftige Volk kennenlernt, dessen ganzer Stolz und ganzes Glück in der Arbeit besteht, die sie verrichten, und in dem Unheil, das sie anrichten.

Das große Ketzertum der modernen Menschheit besteht darin, dass sie aufgehört hat, die hohen Mächte anzubeten, die über Leben und Tod gebieten, die den Wassern ihren Lauf vorschreiben, die den Tieren befehlen, sich zu paaren, und die das jährlich wiederkehrende Wunder der Schöpfung bewirken. Und statt dessen liegt sie vor der maschinellen Erfindungsgabe der Zwerge und vor den Riesen mit ihrer geistesschwachen Kräfteentfaltung im Staube. Heute aber steht es so, dass unser Dasein dauernd von diesem geschäftigen Volke bedroht ist, dass ihre Maschinen unsere Umgebung bilden, und dass wir unserem Gotte dienen, indem wir ihre mechanischen Gebeträder in Gang halten.
So wird es nicht ewig bleiben; das wäre zu furchtbar. Früher oder später einmal müssen wir herausfinden aus all den Trümmern, die das Werk der Zwerge, Gnomen und Reisen sind, und die Zeit wird kommen, wo, um Henry Adams Bild zu übernehmen, die heilige Mutter an die Stelle der Dynamos treten wird. Die Aussichten für unsere Architektur sind mit einer Neuorientierung auf allen Gebieten verknüpft, deren Symbole das Heim, der Garten und der Tempel sind. Denn die Architektur ist das Spiegelbild der Zivilisation und das Gefäß, das sie bewahrt. Unsere Bauwerke können niemals besser oder schlechter sein als die Institutionen, die sie gestaltet haben."

aus: Lewis Mumford, Vom Blockhaus zum Wolkenkratzer, Eine Studie über amerikanische Architektur und Zivilisation, dt. Ausgabe Berlin (1925), das Zitat ist das komplette Nachwort.

Wenn man von der religiösen Symbolik absieht - Mumford war noch nie so aktuell wie heute. Die Zwerge bestimmen längst die Städte - weltweit. Architektur ist nur noch Zwergenwerk, hat keine Bedeutung mehr. Ästhetik hat sich atomisiert.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen